Die Verfemten dieser Republik
Die Verfemten dieser Republik begehren auf gegen die Abschaffung ihrer Grundrechte. Sie treffen sich nunmehr täglich auf dem Platz, der den Namen Rosa Luxemburgs („die Freiheit der Andersdenkenden“) trägt.
Teilverfemte, Vollverfemte blinzeln sich einander an in der grellen Sonne, die den Platz beherrscht. Vor den Treppen der Volksbühne oszillierend, diskutieren sie Giorgio Agambens biopolitisches Paradigma der Moderne und trinken dabei Kaffee oder Corona Extra, eine mexikanische Biermarke.
Lydia Dykier holt Getränkenachschub für Hendrik Sodenkamp, Dominik Lenz und Ilia Ryvkin, allesamt Mitglieder des Demokratischen Widerstands. Als Dykier vom freien Journalisten gefragt wird, ob er ihren Namen schreiben dürfe, entgegnet sie: „Mach ruhig. Der ist sowieso schon verbrannt.“
Ähnlich äußert sich Ryvkin, das sagt, er sei bereits als Islamist verfemt worden, nur weil er sich für die Rechte von Muslimen in Russland eingesetzt habe. Ryvkin, der sich bereits für eine Initiative zur Eindämmung von Aids engagiert und sich daher mit Infektionskrankheiten auskennt, wurde trotzdem bei der Grundgesetzverteilung von der Polizei grundlos abgeführt.
Seitdem das Coronaregime die Grundrechte abgeschafft hat, gehört der Rosa-Luxemburg-Platz wie kein anderer zu den gegenwärtigen Orten des Ausnahmezustands. Samstäglich, wenn hier die Grundgesetzverteidiger in immer größer werdender Zahl die demokratische Grundordnung dieses Staates gegen den „Coronaputsch“ verteidigen, besetzt die Polizei den Platz und verhaftet Demokraten im Widerstand.
Ein Montag ist heute, aber das ist nicht entscheidend, es könnte auch ein Dienstag oder Donnerstag sein. Entscheidend ist, daß heute kein Samstag ist und die Polizei den Rosa-Luxemburg-Platz gerade nicht kontrolliert. Es darf wieder spaziert, geredet, geatmet werden für das Grundgesetz. Der Rosa-Luxemburg-Platz ist einen Augenblick lang frei von Repressionen. Es herrscht Bewegungsfreiheit, die in Zeiten des „Bleiben Sie Zuhause!“-Diktats so wertvoll geworden ist wie Gedankenfreiheit, für die Rosa Luxemburg sich aufopferte.
Die Geächteten führen Debatten über die Fundamente der Demokratie. Ryvkin referiert über die Planwirtschaft des italienischen Faschismus. Der Rosa-Luxemburg-Platz ist der Speakers’ Corner der Verfemten dieser Republik.
Dominik Lenz ist entsetzt, daß Guillaume Paoli ihn einen Volltrottel genannt habe. „Der war hier Hausphilosoph an der Volksbühne und jetzt beschimpft er einen 40 Jahre jüngeren Schauspieler, der die Verfassung schützt“, sagt Dominik Lenz über Paoli, der Hausphilosoph am Centraltheater in Leipzig war. Paoli antwortete bisher nicht auf eine Presseanfrage.
In der Reflexion über Paolis jüngste Äußerungen ist eine gewiße Enttäuschung herauszuhören. Sodenkamp, der Paoli persönlich kennt, hätte sich gewünscht, wenn er Paoli bei einem Glas Rotwein das Konzept ihrer Demokratieerhaltungsbewegung hätte erläutern können. Das sei zielführender als Intellektuellenbeschimpfung.
Sodenkamp vermutet, daß derlei Verfemungsversuche ins Leere laufen werden. Alle nicken geeint in der festen Überzeugung, daß ihr Widerstandskampf für die Rückeroberung des Rechtsstaats nicht mehr aufzuhalten sei, egal wie hoch die Verfemenungswelle noch schlägt.
Plötzlich erscheint Anselm Lenz auf der Bühne vor der Volksbühne. Als der Pressefotograf ihn im kleinen Kreise der verdienten Mitstreiter ablichten will, wehrt Anselm Lenz ab: „Ich bin privat hier.“ Doch in Coronazeiten ist das Private wieder politisch. Anselm Lenz liefert hierfür den besten Beweis, indem er schnurstracks auf die Mitte des Platzes geht und dem Räuberrad frische Schnittblumen und Grundgesetze niederlegt.
Es wirkt, als hätte Anselm Lenz vor dem Altar der Volksbühne Opfergaben dargereicht, um die Götter des Grundgesetzes gnädig zustimmen für seine Reconquista der Grundrechte.
„Anselm Lenz, der neue Julian Assange“, wie ihn Ryvkin respektvoll nennt, trägt einen dicken Rollkragenpullover, dessen Wolle so rot leuchtet wie die rote Mütze der Jakobiner während der Französischen Revolution.
Ryvkin sagt über Anselm Lenz: „Er hatte viel zu verlieren und hat es verloren für unsere gemeinsame Sache!“ Die lautet „Freiheit, Gleichheit, Geschwisterlichkeit“. So steht es in großen Lettern auf den Flugblättern, die Anselm Lenz unter dem Arm trägt und in einer Geste der Entschloßenheit im Wind über dem Rosa-Luxemburg-Platz verstreut.
Auch Anselm Lenz weiß von Verfemungen der Mitglieder des Demokratischen Widerstands zu berichten und erfuhr zudem von Abwerbungsversuchen. Das private Umfeld einiger Mitglieder versuche, diese aus der Bewegung herauszuquatschen.
Grundgesetzaustreibung ist die Teufelsaustreibung in Coronazeiten.
Anselm Lenz sagt, die Verfemungswelle gehe ihm auf die Nerven, weil Gefahr bestehe, daß wegen ihr Leute aus der zweiten oder dritten Reihe abspringen. Es ist später Nachmittag und Lenz erwartet für den Abend um 19:20 Uhr einen Beitrag über die von ihm mitgegründete Grundrechtebewegung in der Kulturzeit auf 3sat.
Anselm Lenz erklärt, wie wichtig es sei, daß es auch Medien gebe, die sich redlich bemühen, das Anliegen der Demokraten im Widerstand einem breiten Publikum zu vermitteln, auch wenn man als trottelige Künstler dargestellt werde, die überzeichnete Bürgerrechtsphantasien haben. Medienpräsenz helfe beim Weitermachen.
Anselm Lenz, der gerade einen Essay über das Ende der neoliberalen Epoche veröffentlichte, sagt: „Es wird dauern, bis wir in gesicherten Verhältnissen ankommen.“
Bis dahin heißt es, durchzuhalten. Die Rückeroberung des Rechtsstaats braucht einen langen Atem. Übernacht wachten wir in der Diktatur auf, aber der Weg zurück zur Demokratie wird Jahre dauern.
Das Gespräch mit Anselm Lenz wird jäh abgebrochen durch einen Ruf, der wie ein Urschrei über den Platz fegt: „Im Bewußtsein seiner Verantwortung vor Gott und den Menschen, von dem Willen beseelt, als gleichberechtigtes Glied in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen, hat sich das Deutsche Volk kraft seiner verfassungsgebenden Gewalt dieses Grundgesetz gegeben.“
Dominik Lenz erklimmt unter Lebensgefahr den Gipfel des Räuberrads, bereit ein Grundgesetzmärtyrer zu werden. Die Spitze des Fernsehturms scheint von dort oben zum Greifen nah. In dieser schwindelerregenden Höhe ruft Dominik Lenz die Präambel des Grundgesetzes aus der Tiefe seines Leibes heraus. Er thront auf dem höchsten Punkt des Räuberrads mit dem Antlitz und der Würde der Freiheitsstatue.
Ryvkin, der ebenfalls auf das Räuberrad kletterte, zitiert feierlich Artikel 1 des Grundgesetzes: „Das Deutsche Volk bekennt sich zu unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt.“
Nach zehn Minuten fahren auf dem Platz die ersten Polizeiautos vor, die ein Denunziant verständigt hat. Libertas, die Göttin der Freiheit, wurde für heute von ihrem Sockel vor der Volksbühne gestürzt. Aber es ist nur eine Frage der Zeit, bis die Freiheit wieder aufersteht. Geplant ist die Auferstehung zu Ostern. Für Karsamstag verkündete die Grundgesetzguerilla ihre nächste Frühjahrsoffensive im Häuserkampf für die Rückeroberung des Rechtsstaats.
Fotos auf: https://www.flickr.com/photos/lejeunemartin
Danke, Martin! Du hast eine sehr schöne Sprache, nicht die Sprache des Journalisten sondern die des Literaten. Gefällt mir gut. Weil der Name Assange gefallen ist. Ich habe bei candles4assange am 01.01.2020 eine Rede gehalten über die Rechtsstaatlichkeit, die im Internet aufzurufen. Eine spätere Rede in Zusammenarbeit mit andrea Drescher ist nicht aufgezeichnet worden. Aber ich versuche immer die Sprache der Straße zu sprechen, das andere würde bei mir gekünstelt wirken. Bei Dir nicht! Bei Dir klingt die Sprache authentisch!
Danke, nochmal.
Norbert
Die Bartlebys sind die Einzigsten wo verstehen was auf dem Spiel steht! Unser aller politisches Überleben nach dem Corona-Coup. Und die Volksbühne wird das Parlament der Republik der Zukunft!!!
Ganz ehrlich, ihr habt alle so einen an der Klatsche. Legt eure Aluhüte weg und lebt. Es gibt keine Coronadiktatur! Ich verstehe es wirklich nicht, was mit euch los ist, wo diese Verdrossenheit her kommt.
Gescheiterte Existenzen, die dem Staat ihre eigene Unfähigkeit vorwerfen?