Märzrevolution als inszeniertes Happening am Berliner Wochenende für die Demokratie
Abgesägte Verkehrsschilder und ausgesperrte Bürger, die von der Polizei gefilmt werden: Über die gescheiterte Eröffnung des Berliner Wochenendes für die Demokratie hinter Hamburger Gittern.
Der Berliner Senat hat die Demokratie outgesourct an eine Kulturprojekte Berlin GmbH. Die Kapitalgesellschaft lädt ein im Namen von Franziska Giffey zum Wochenende für die Demokratie mit den Worten: »Die Regierende Bürgermeisterin von Berlin lädt alle Berliner*innen am 18. März 2023 um 11 Uhr zur Eröffnung des Berliner Wochenendes für die Demokratie sowie zum ersten Stadtspaziergang ein.»
Die Bürger, die dieser Einladung in großer Vorfreude folgten und am 18. März 2023 um 11 Uhr zur Eröffnung des Berliner Wochenendes für die Demokratie in die Berliner Friedrichstraße kamen, wurden durch Hamburger Gitter, die berüchtigten Polizei-Absperrungen, an der Teilnahme am Wochenende für die Demokratie gehindert.
Aussperrung statt Partizipation für die Bürger dieser Stadt. Die Demokratie scheitert am Sicherheitsapparat der Bundesrepublik Deutschland.
Eine ganze Einsatzhundertschaft, nämlich die 22., ist das Geschenk der Polizeipräsidentin Dr. Barbara Slowik an die Berliner Bürger zum 175. Jubiläum der Revolution am 18. März 1848, das am Wochenende für die Demokratie gefeiert wird.
«Schmierentheater»
Die Polizeibeamten durchsuchen Jutebeutel der Bürger und filmen die Bürger hinter den Hamburger Gittern per Videokamera systematisch ab. Bürger beschweren sich lautstark darüber, daß sie gefilmt werden. Giffeys Rede ist nur noch Hintergrund-Gesäusel polizeilicher Maßnahmen gegen friedliche Bürger. «Schmierentheater!», ertönt es aus den Reihen der Ausgesperrten.
Dazu paßt, daß Giffey das Berliner Wochenendes für die Demokratie mit einem Zitat eröffnet von Lucie Lenz, einem Spitzel der preußischen Polizei, die im Dienste des Königs Friedrich Wilhelm IV. auf die Revolutionäre schoß. Die Todesopfer liegen auf dem Friedhof der Märzgefallenen im Friedrichshain.
Von der Polizei gefilmt wird auch Dr. Elisabeth Thalhofer, die Leiterin der Erinnerungsstätte für die Freiheitsbewegungen in der deutschen Geschichte, und eine der wichtigsten Wissenschaftlerinnen weltweit für die 18. März-Forschung. Kein geringerer als Bundespräsident Gustav Heinemann gründete die Erinnerungsstätte für die Freiheitsbewegungen in der deutschen Geschichte.
Dr. Thalhofer ist kein Gast der Eröffnung des Wochenendes für die Demokratie und muß den Auftakt zum 175. Jubiläum der Märzrevolution von 1848 gemeinsam mit den ausgesperrten Bürgern hinter den Hamburger Gittern fristen.
«Ich habe einen Barrikadenplatz ergattert. Wenn wir Revolutionäre wären, würden wir jetzt die Barrikaden einreißen», sagt Dr. Thalhofer dazu.
Politikwissenschaftler Jürgen Rosorius, der vom 16. zum 17. März an der europäischen Tagung zu «1848 Heute» im Berliner Humboldt Forum teilnahm, ärgert sich, daß Dr. Thalhofer kein Gast ist. Rosorius sagt, daß Giffey die Gästeliste verantworte. Die Auswahl der Gäste und die Polizei-Absperrungen seien ein «Skandal» und eines Bürger-Festest wie des Wochenendes für die Demokratie unwürdig.
Zur Eröffnung des Berliner Wochenendes für die Demokratie wurden in der Friedrichstraße feierlich Verkehrsschilder abgesägt, um einen Verkehrsschilder-freien Blick von der Tribüne auf die Regierende Bürgermeisterin und den Bundespräsidenten zu gewährleisten. Der Historiker Rainer E. Klemke, der 20 Jahre lang in Berlin für die Zeitgeschichte zuständig war, findet es unmöglich, daß für so eine Inszenierung Verkehrsschilder abgesägt werden. Klemke sagt, die Kulturprojekte Berlin GmbH sei dafür bei der Polizei angezeigt worden.
Der Bundespräsident als Statist
Die Inszenierung, von der Klemke spricht, bezieht sich nicht nur auf das Schaulaufen von Bundespräsident Dr. Frank-Walter Steinmeier, der keine Rede hält, sondern nur stumm ein Schild mit dem Zitat «Die Demokratie ist das Ziel, nach dem die Geschichte in ganz Europa ringt.»
Steinmeier steht stumm mit dem Schild auf der Friedrichstraße inmitten einer Theater-Kulisse aus allerlei aufgetürmten Sperrmüll und Gerümpel: der Nachbau einer Barrikade aus dem Revolutionsjahr durch den Szenenbildner Reinhard Glöde. Doch so genau ist dieser Nachbau für das Auge des Bürgers nicht zu erkennen, denn er befindet sich gemeinsam mit den geladenen Gäste, die allein das Privileg genießen, ihn aus der Nähe betrachten zu dürfen, weit und unerreichbar hinter den Hamburger Gittern.
BVV-Vorsteher und Dramaturg Werner Heck findet das etwas merkwürdig und mag auch nicht die Absperrungen, die Bürger an der Teilnahme hindern. Vielleicht als Persiflage auf Steinmeier hält auch Heck stumm ein Schild – allerdings mit der Aufschrift «Keine Zeit für Konservative».
Barrikadenkämpfer hinter Gittern
Auch während des ersten Stadtspaziergangs mit dem Bundespräsidenten, zu dem alle Bürger von der Regierenden Bürgermeisterin eingeladen wurden, bleiben die Bürger ausgesperrt. Wer dem Historiker Dr. Bjoern Weigel dabei zuhören will, wie er Steinmeier während des ersten Stadtrundgangs zum Thema «Auf den Barrikaden!» zum Gedenkort des Barrikadenkämpfers Ernst Zinna in der Jägerstraße führt, wird von Personenschützern des Bundeskriminalamtes rigoros weggedrängt. Daß die erste Stadtführung von der Friedrichstraße aus in die Jägerstraße Richtung Charlottenstraße führte, ist kein Zufall. Denn dieser Abschnitt der Jägerstraße ist ebenso wie die Friedrichstraße durch Hamburger Gitter abgesperrt und von der Hundertschaft bewacht. Kein Bürger kann es trotz Einladung zu dieser ersten Stadtführung schaffen.
Die Kulturprojekte Berlin GmbH wurde allerdings nicht nur dafür kritisiert. Dr. Christoph Hamann von der Aktion 18. März, der um zwölf Uhr mittags der Gefallenen des 18. März auf dem Platz des 18. März am Brandenburger Tor gedachte, ist unglücklich darüber, daß sich der Auftakt mit Steinmeier und Giffey in der Friedrichstraße zeitlich überschneidet mit den Kranzniederlegungen auf dem Platz des 18. März. Dr. Hamann sagt, daß die Kulturprojekte Berlin GmbH zu keinerlei Kompromiss und Entgegenkommen bereit gewesen sei. Daher fanden die Kranzniederlegungen im Schatten der Eröffnung des Wochenendes für die Demokratie statt.
Am Rande der Gedenkstunde am 175. Jahrestag der Märzrevolution auf dem Friedhof der Märzgefallenen erzählt Volker Schröder von der Aktion 18. März der Regierenden Bürgermeisterin, wie unzufrieden er sei mit der Kulturprojekte Berlin GmbH. Diese habe nach Schröders jahrzehntelangem Engagement für ein öffentliches und sichtbares Gedenken der Märzrevolution das Ganze an sich gerißen und mit Hilfe einer Event-Agentur als Subunternehmen daraus ein Happening gemacht. Giffey ist eine gute Zuhörerin und hört Schröder zu. Was sie aufgrund der Kritik an der Kulturprojekte Berlin GmbH ändern will, verrät sie nicht.
Was Stühle und Tische 1848 für die März-Revolutionäre waren, sind heute die E-Roller: Barrikaden als Auflehnung gegen die öffentliche Ordnung.
«Wir können froh sein, daß wir noch nicht über die E-Roller gestolpert sind», sagt Dr. Weigel zur Regierenden Bürgermeisterin während des ersten Stadtspaziergangs des Berliner Wochenendes für die Demokratie auf dem Weg zu Schülern der 11. Klassen der Oberstufe des Arndt-Gymnasiums in Dahlem, die auf dem Boulevard Unter den Linden ein Theaterstück über die Märzrevolution aufführen.
Über die Schwarz-Rot-Goldene Fahne läßt sich auch am 175. Jahrestag der Märzrevolution trefflich streiten. Die Schüler werfen schwarz-rot-goldene Farben während der Aufführung immer wieder auf die Straße vor dem Gedenkort Neue Wache und treten sie mit den Füßen. Das Publikum applaudiert. Die Märzrevolution als inszeniertes Happening ist ein voller Erfolg.
Die Kulturprojekte Berlin GmbH hatte bereits während der Bühnenshow am Brandenburger Tor zum 30. Jahrestag des Mauerfalls für Irritationen gesorgt. Ein antisemitisches Bild auf der Bühne der Kulturprojekte Berlin GmbH überschattete das Jubiläum am 11. November 2019.